Yang Stil-Bagua Taijiquan

„Yang Stil-Bagua Taijiquan“ 楊式八卦太极拳 -manchmal nur kurz „Bagua Taijiquan*“ genannt, ist selbst in China eine sehr selten anzutreffende Form des Taijiquan, mit einer ganz eigenen Herkunft und einer sehr speziellen und anspruchsvollen Ausführung! Da diese Form anfangs nur einzelnen sehr fortgeschrittenen Taijiquan-Schülern vermittelt wurde und die Quellen hier eher mündlich sind, ist die Herkunft nicht ganz so gut dokumentiert.

Laut den Überlieferungen sollen der Begründer des Yang Stil-Taijiquan Yang Lu Chan (1799-1874) und der Begründer des Bagua Zhang, Dong Hai Quan (1797-1882) als Kampfkunst-Bruderschaft enge Kontakte gepflegt haben und in ihren späteren Lehrjahren gemeinsam eine Misch-Form geschaffen haben, die die Vorzüge des Taijiquan und des Bagua Zhang verbindet. Überliefert ist auch, dass einer ihrer beiden Schüler, der berühmte Meister Liu De Kuan, Kampfkunst-Name: „Großer Speer Liu“ (1826-1911) eine solche Form praktizierte. Er gilt als die 2. Generation. Einer seiner talentiertesten Schüler war Wu Junshan (1870-1941), der bereits als Kind bei Meister Liu trainierte, später aber auch bei mehreren Bagua Zhang Meistern der 2. Generation lernte und in China als ein sehr berühmter Meister des Bagua Zhang bekannt ist, nach ihm wurde sogar ein eigener Bagua Stil benannt: Wu Stil-Bagua Zhang.

Meister Wu Junshan erhielt in der Republik China eine Anstellung als Kampfkunst Lehrer an der Akademie für Nationale Kampfkünste in Nanjing von 1928-1936. Dort lehrte er diese Form des Bagua Taijiquan einigen seiner talentiertesten und fortgeschrittenen Wushu- und Taijiquan-Studenten. Einige dieser talentierten und noch sehr jungen Studenten wurden später sogar für die wohl 1. Wushu-Vorführung in Europa u.a.in Berlin im August 1936 ausgesucht unter ihnen auch zwei Frauen: Fu Shu Yun und Liu Yu Hua. Fu Shu Yun siedelte später nach Taiwan über und gab dort eine verkürzte Form des Bagua Taijiquan weiter. Meister Wu Junshan unterrichtete in Nanjing aber auch den Vizedirektor der Akademie, Meister Zhang Xiang Wu (1887-1959) selbst ein Meister des Bajiquan und des Bagua Zhang. Meister Zhang Xiang Wu, als die 4. Generation des Bagua Taijiquan, lebte ab Ende der 1930er Jahre in Xi’an.

Unser Meister Li Suiyin (geb. 1942) wurde mit 8 Jahren sein Schüler und lernte neben der Yang Stil-Bagua Taijiquan Form auch das Bajiquan, das Bagua Zhang, Wudang Kun Wu-Schwert und Xingyiquan in vollem Umfang von seinem Meister. Er ist somit die 5. Generation des Yang Stil-Bagua Taijiquan. Es dauerte jedoch noch sehr lange, ehe Meister Li Suiyin sich entschloss, diese Form öffentlich zu lehren. Durch einen glücklichen Zufall und einen privaten Kontakt in Xi’an konnten wir (Udo Werner aus Dresden und ich) Meister Li Suiyin 2004 in Dresden, bei seinem ersten privaten Besuch im Ausland kennenlernen und gleich ein Seminar organisieren. 2005 wurde ich, neben Udo Werner, in einer traditionellen Zeremonie sein persönlicher enger Schüler (tudi) und aufgenommen in die 6. Generation des Yang Stil-Bagua Taijiquan. 15 Jahre lang bis ins Jahr 2019 unterrichtete Meister Li Suiyin ein bis zwei dutzend Schüler auf einem 7-9 Tage dauernden Camp in der Nähe von Dresden diese Form des Taijiquan, dass zugleich sein einziger Auslandsaufenthalt und Unterricht außerhalb von China war.

In vielen Stunden bei mir zuhause, wo Meister Li Suiyin während der jährlichen Seminare in Deutschland wohnte, konnte ich mit ihm die Form und Theorie des Yang Stil-Bagua Taijiquan vertiefen. Ab 2015 reiste ich selbst jedes Jahr für mehrere Wochen nach Xi’an, um weiter zu lernen und so auch bis heute um Meister Li noch im hohen Lebensalter zu begleiten.

Die Form des Yang Stil-Bagua Taijiquan

…ist selbst für traditionelle Formen in ihrem Umfang beachtlich. Für einen kompletten langsamen Durchlauf benötigt man 1 Stunde! Die Positionen sind zum Teil sehr tief, aber auch sehr hoch, bei manchen steht man nur auf dem Fußballen, es werden spiegelbildliche Varianten ausgeführt, manche Taijiquan-Techniken wie die „Wolkenhände“ gibt es in 3 verschiedenen Ausführungen und es kommen Bagua-, Xingyi- und Baji- Bewegungen darin vor. Manchen Positionen liegt ein sehr energetischer Charakter zugrunde, der eher an eine Qi Gong-Form erinnert und an die alchemistischen Praktiken aus dem Daoismus angelehnt ist. Viele Taijiquan-Liebhaber** sind von der Wirkung dieser Form begeistert und profitieren bei regelmäßiger Praxis von tiefgreifenden Veränderungen und Verbesserungen in körperlicher und geistiger Form. Die einzelnen Teile der Form können auch für sich und als Sequenz geübt werden und erzielen ebenfalls hervorragende Wirkungen. Das Potential dieser Form ist riesig und noch längst nicht weitreichend erforscht. Ich sehe es als meine Aufgabe an, als Stil-Nachfolger und Taijiquan-Lehrer diese Form zu bewahren und weiter zu erforschen.

Quellen:

Li Suiyin, Lu Di Min: „Yang Stil-Bagua Taijiquan“ Sportverlag Beijing 2018,

Lu Di Min: „Yang Stil-Taijiquan-Umfassendes Lexikon aller 3 Sektionen“ Sportverlag Beijing, 2008

Lu Dui Min: „ Das Erbe des Bagua Taijiquan in Xi’an“ Zeitschrift „Wu Lin“ 6/2006

Li Suiyin: Persönliche Gespräche und eigene Aufzeichnungen (Thomas Richter)

Morris, Andrew D. et.al.: „Marrow of the Nation-History of Sport and Physical Culture in Republican China“ University of California Press 2004

Zhao Fu Lin: „Bagua Taijiquan“ translated by Heron Beecham and Li Pei Chi, Barca Publishing London 2011

*es gibt auch noch andere Formen des „Bagua Taijiquan“ in China, die hier explizit ausgelassen werden

** für Anfänger kann auch eine verkürzte Form (36er) dienen, als gute und energetisch vorbereitende Taijiquan-Grundlage dient weiterhin auch die traditionelle Yang Stil-85er Form in einer Bagua Taijiquan-Variante, die in mindestens 2-3 Jahren Praxis geübt werden kann, so wie man es auch an der Nanjinger Akademie in den Taijiquan-Klassen praktiziert hat.

Text: Thomas Richter, 2024